Justiz - Дюрренматт Фридрих - Страница 16
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Draußen das Heranheulen eines Krankenwagens.
«Jämmerlin wird wieder einen Herzanfall bekommen haben«, sagte Lienhard trocken.»Ich habe ihm sechzig Rosen überreicht.»
«Und mich hat er nackt gesehen«, lachte sie.
«Das bist du ja öfters«, meinte er.
«Woher wußten Sie eigentlich, wer Daphne ist, Lienhard?«fragte ich.
«Man kommt eben darauf. Gelegentlich«, antwortete er und steckte seine Dunhill in Brand.»Wohin darf ich dich bringen, Fräulein Müller?»
«Nach Ascona.»
«Ich fahr dich hin.»
«Geschäftstüchtig«, meinte sie anerkennend.
«Kommt auf die Spesen«, sagte Lienhard.»Die zahlt er. «Damit wies er auf mich.»Er hat einige unbezahlbare Informationen bekommen.»
«Ich habe auch noch einen Auftrag für ihn«, sagte Daphne.
«Nun?«fragte Lienhard.
Ihr nicht ganz zugeschwollenes rechtes Auge glitzerte, und mit ihrer linken Hand fuhr sie durch ihr zinnoberrotes Haar.
«Er soll der echten Monika Steiermann, dieser lesbischen Ziege, ausrichten, ich wolle sie nicht mehr sehen. Hat sie's von einem Rechtsanwalt, ist's offiziell.»
Lienhard lachte.»Mädchen, das gibt einen Skandal, den du dir nicht vorstellen kannst.»
«Mir egal«, sagte sie.
Lienhards Dunhill wollte im Dampf des Badezimmers nicht recht brennen. Er zündete sie noch einmal an.
«Spät«, meinte er,»mischen Sie sich da nicht rein. Das ist ein Rat.»
«Sie haben mich hineingemischt«, antwortete ich.
«Auch wieder wahr«, sagte Lienhard und lachte, und dann sagte er zu Daphne:»Steig raus.»
«Sie sind ja auf einmal ein Redner geworden«, meinte ich zu Lienhard und ging.
Später, im Zeltweg, rief ich Lüdewitz an. Der tobte. Ich wußte zuviel. Er wurde kleinlaut. Und so kam mein Besuch bei der wirklichen Monika Steiermann zustande.
Zweite Rede an den Staatsanwalt: Je mehr ich schreibe, desto unwahrscheinlicher fällt mein Bericht aus. Ich bastle schriftstellerisch gewaltig, bemühe mich sogar im Dichterischen, berichte von der Wetterlage, versuche geographisch exakt zu sein, schaue im Stadtplan nach, all das nur, weil Sie, Herr Staatsanwalt Joachim Feuser (verzeihen Sie, daß der Tote in der Leichenhalle wieder an Sie persönlich das Wort richtet), das Literarische, ja Poetische schätzen und sich überhaupt als einen musischen Menschen betrachten, wie Sie bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten — sogar vor dem Geschworenengericht — zu erwähnen lieben und daher, ohne meine literarischen Zutaten, mein Manuskript womöglich in die Ecke feuern könnten. Aber mein Bericht bleibt Klischee. Trotz Dichtung. Tut mir leid. Ich komme mir wie der Verfasser eines Kolportageromans vor: ich als Gerechtigkeitsfanatiker, Lienhard als Limmat-Sherlock-Holmes, und Daphne Müller als Messalina der Goldküste, wie unser rechtes Seeufer genannt wird. Die Statue mit den straffen Brüsten und der unanständigen Haltung, die ich bei Mock übersehen hatte, während ich die lebendige Daphne als Statue bewunderte, dieses sinnliche Weibsbild aus bemaltem Gips ist mir (von der echten ganz zu schweigen) nachträglich lebendiger in Erinnerung als das Mädchen, das nun in meinem Bericht vorkommt. Natürlich ist es an sich gleichgültig, ob sie und falls, wie oft sie mit Lienhard schlief — mit wem schlief sie nicht? — , aber die inneren Beweggründe und Vorgänge sind nun einmal für meinen Bericht wesentlich, wie etwas geschieht in dieser verschlungenen Welt und warum. Stimmt das äußere Geschehen, lassen sich die inneren Motive wenn nicht mit Sicherheit erraten, so doch ahnen, stimmen die äußeren Fakten nicht, fand ein Beischlaf statt, den man nicht aufzeichnete, oder vermeldete man einen, der nicht stattfand, schwebt man im Leeren, im Vagen. So auch hier. Wie kam Lienhard hinter das Geheimnis der» falschen «Monika Steiermann? Weil er mit ihr schlief? Dann hätten es viele gewußt. Liebte sie ihn? Dann hätte sie es ihm nicht gesagt. Hatte sie Angst? Möglich. Und was Benno betrifft, wollte Lienhard ihn von Anfang an verdächtigen? War Daphne der Grund? Ich stelle diese Fragen, weil man mir die Schuld an Daphnes Tod zuschiebt. Ich hätte nicht die echte Monika Steiermann aufsuchen sollen. Aber Daphne hat mich darum gebeten. Ich hatte einer Möglichkeit nachzugehen. Diesen Auftrag hatte ich angenommen und auch den Vorschuß von fünfzehntausend Franken, auch wenn ich an die Unmöglichkeit dieser Möglichkeit glaubte und jetzt noch glaube: Denn daß Dr.h.c. Isaak Kohler der Mörder Winters ist, daran ist nicht zu zweifeln. Daß es auch ein anderer hätte sein können, ist nur eine Möglichkeit, die nichts besagt, daß auf der Suche nach dieser Möglichkeit übersehene Fakten ans Licht kommen, liegt am Wesen der Fiktion, Kohler sei nicht der Mörder, die ich für diese Suche machen mußte. Im übrigen habe ich die Wahrheit zu schreiben, bei der Wahrheit zu bleiben, doch eben: Was ist die Wahrheit hinter der Wahrheit? Ich stehe vor Vermutungen, tappe herum. Was stimmt? Was ist übertrieben? Was verfälscht? Was wird verschwiegen? Was soll ich bezweifeln? Was glauben? Ist überhaupt etwas Wahres, Sicheres, Gewisses hinter diesen Vorgängen, hinter diesen Kohlers, Steiermanns, Stüssi-Leupins, Lienhards, Hélènes, Bennos usw., die mir da über den Weg gelaufen sind, etwas Wahres, Sicheres, Gewisses, Wirkliches hinter unserer Stadt, hinter unserem Land? Ist nicht alles rettungslos abgekapselt, hoffnungslos ausgeschlossen von den Gesetzen und Motiven, die die übrige Welt in Schwung und Atem halten, ist nicht alles hinterwäldlerisch, mitteleuropäisch, provinzlerisch eben, unwirklich, was hier lebt, liebt, frißt, schiebt, geschäftelt und tüftelt, sich weiterzeugt und weiterorganisiert? Was stellen wir noch dar? Was repräsentieren wir noch? Steckt noch ein Körnchen Sinn, ein Gran Bedeutung in der Bagage, die ich beschreibe? Aber vielleicht lauert die Antwort auf diese Frage hinter allem und jedem, vielleicht bricht sie unvermutet aus jeder denkbaren menschlichen Situation und Konstellation hervor, überfallartig, wie aus einem Versteck. Die Antwort wird das Urteil über uns sein, der Vollzug dieses Urteils die Wahrheit. Ich will es glauben. Leidenschaftlich und beharrlich. Nicht der exquisiten Gesellschaft zuliebe, in der ich vegetiere, nicht dieser unerträglichen Relikte wegen, die mich umgeben, sondern um der Gerechtigkeit willen, der zuliebe ich handle, handeln muß, will ich mir den letzten Rest Menschlichkeit bewahren (pathetisch, feierlich, erhaben, heiliger Ernst mit Orgelbegleitung, was ich da niederschreibe, aber ich streiche es nicht durch, korrigiere es nicht, wozu auch Korrekturen, wozu auch Stil, nicht literarische Ambitionen leiten mich, sondern mörderische Absichten, im übrigen: nicht betrunken, Herr Staatsanwalt, Irrtum, nicht betrunken, nur nüchtern, eisig nüchtern, tödlich nüchtern). Es bleibt mir darum nichts anderes übrig (Auf Ihr Wohl, Herr Staatsanwalt!), als zu saufen, zu huren, zu berichten, meine Bedenken anzumelden, meine Fragezeichen zu setzen und zu warten, zu warten, bis sich die Wahrheit enthüllt, bis sich die grausame Göttin entschleiert (doch literarisch geworden, zum Kotzen). Das wird nicht in diesen Papieren geschehen, die Wahrheit ist keine Formel, die sich aufzeichnen läßt, sie liegt außerhalb jeder sprachlichen Bemühung, außerhalb jeder Dichterei, nur im Hereinbrechen des Gerichts, in diesem ewigen Selbstvollzug der Gerechtigkeit wird sie wirksam, ist sie zu ahnen. Wahrheit wird sein, wenn ich einmal vor Dr.h.c. Kohler stehen werde, Auge in Auge, wenn ich die Gerechtigkeit verwirklichen und das Urteil vollziehen werde. Dann wird einen Augenblick, einen Herzschlag, eine blitzschnelle Ewigkeit, die peitschende Sekunde eines Schusses lang die Wahrheit aufleuchten, die Wahrheit, die sich mir jetzt beim Nachdenken verflüchtigt, die kaum mehr zu sein scheint als ein bizarres böses Märchen. Als ein solches kommt mir auch mein Besuch bei der» echten «Steiermann vor: mehr Traum als Wirklichkeit, mehr Sage als Tatsache.
Monika Steiermann 2: >Mon Repos< ist am Rande unserer Stadt in einem riesigen und so verwilderten Park gelegen, daß die Villa seit langem beinahe unsichtbar geworden ist, nur im Winter sind bisweilen mühsam und unbestimmt einige Gemäuer und ein Giebel durch das wirre Geäst alter Bäume gegen den Wagnerbühl hin zu erraten. An Empfänge in >Mon Repos< vermögen sich nur noch wenige zu erinnern. Vater und Großvater der» echten «Monika gaben ihre Feste und Jubiläen schon auf ihren Landsitzen am Zuger- und Genfersee, hielten sich in unserer Stadt nur auf, um zu arbeiten (sie stellten noch Schwerarbeiter der Industrie dar), feiern taten sie auswärts, während die Damen, besuchten sie unsere Stadt, im >Dolder<, im >Baur au Lac< oder eben im >Breitingerhof< logierten. >Mon Repos< wurde nach und nach eine Sage, besonders nachdem eines Morgens drei Einbrecher, die aus Deutschland eingereist waren, jämmerlich zusammengeschlagen vor dem Parkportal der Steiermannschen Villa lagen; die Polizei gab dazu keinen Kommentar. Lüdewitz hatte sich eingeschaltet. Außer Daphne, die man für Monika Steiermann hielt, schien sich niemand in dem Haus aufzuhalten, die Lieferanten hatten ihre Ware in eine leere Garage neben dem Parkportal zu stellen, doch war die Menge der Lebensmittel beträchtlich. Daphne selber lud niemanden in die Villa ein, sie besaß noch ein Appartement in der Aurorastraße. Ich hatte schon zwei Treupel zu mir genommen, als ich zum Wagnerstutzweg fuhr. Der Wetterumsturz war wieder einmal umgestürzt, der See schien ein Rinnsal, so nah war das andere Ufer. Vier Uhr nachmittags. Vor dem Parkportal hielt ich an, den Wagen halb auf dem Trottoir geparkt. Das Portal war unverschlossen. Ich ging in den Park hinein, unsicher, die Treupel wirkten noch. Der Kiesweg führte aufwärts, hin und wieder einzelne hölzerne Stufen, aber er war durchaus nicht steil, wie ich erwartet hatte, bedeutet doch Stutz eine jähe Steigung. Der Park war ungepflegt, die Wege nicht gejätet, die Springbrunnen vermoost, dazwischen urwäldliche Partien, alles besetzt mit Unmengen von Gartenzwergen. Sie standen nicht einzeln herum, sondern in Gruppen, in Völkern, sinnlos, mit weißen Barten, rosig, lächelnd, idiotisch, saßen sogar in den Bäumen, wie Vögel auf den Ästen befestigt, dann wieder gab es größere Gartenzwerge, grimmigere, ja bösartigere, auch weibliche, die größer als die männlichen waren, unheimliche Zwergweiber mit großen Köpfen. Ich fühlte mich von ihnen verfolgt, eingekreist, lief immer schneller, bis ich nach einer jähen Kurve um eine mächtige alte Esche herum unvermittelt aufgefangen wurde: Es war, als würde ich gegen Eisen geschmettert, ohne daß ich recht erkennen konnte, wer mich da auf sich aufprallen ließ und mich umdrehte, offenbar ein Leibwächter, worauf ich den restlichen Weg zur Villa mehr getragen als geführt wurde. In der Haustüre stand ein zweiter Leibwächter, so massig, daß er die Türe auszufüllen schien, nahm mich in Empfang und schob mich ins Innere der Villa, zuerst durch eine Vorhalle, dann durch eine Halle mit einem prasselnden Kamin, ein ganzer Baumstamm schien darin zu brennen, und endlich in einen Salon oder, wenn man will, mehr in ein Kabinett. Man ließ mich in einen Ledersessel fallen. Benommen schaute ich auf. Die Arme und der Rücken schmerzten. Die beiden Leibwächter saßen mir gegenüber in klobigen Ledersesseln. Sie waren kahlköpfig. Ihre Gesichter waren wie aus Ton. Schlitzäugig, Backenknochen wie Fäuste. Sie waren sorgfältig gekleidet, dunkelblaue Anzüge aus reiner Seide, als wäre Hochsommer, seidene weiße Krawatten, doch Schuhe, wie Gewichtheber sie tragen. Sie wirkten wie Kolosse, ohne eigentlich sonderlich groß gewachsen zu sein. Ich nickte ihnen zu. Ihre Gesichter blieben ausdruckslos. Ich sah mich um. An den getäfelten Wänden hingen und klebten Fotos, derart zahlreich, daß das dunkelbraune Getäfel fast wie mit einer Fototapete überdeckt war; und mit jener merkwürdigen Art von Schrecken, die jede Entdeckung begleitet, begriff ich, daß es sich um immer die gleiche Person handelte, die hier abgebildet war: Dr. Benno, und dann erst erkannte ich an der Wand gegenüber den vergitterten Fenstern in einer Nische die unanständige Meisterplastik Mocks, die nackte» falsche «Steiermann, Daphne, nur jetzt in Bronze, ihre Brüste wie Gewichte mit den Händen stemmend, und wie ich sie wahrgenommen hatte, öffnete sich die gegenüberliegende Doppeltür, und ein dritter kahlköpfiger Leibwächter, noch mächtiger, noch seidiger als die beiden in den Ledersesseln, trug ein verrunzeltes und verkrümmtes Wesen von der Größe eines vierjährigen Kindes herein. Es trug ein groteskes, tief ausgeschnittenes schwarzes Kleid, auf dem ein Saphir funkelte, über dem winzigen, zerkrüppelten Leib.
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